Die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld versteht sich als Impulsgeberin für die Erforschung und Darstellung geschichtlicher Zusammenhänge und aktueller Entwicklungen hinsichtlich der Diskriminierung und des Alltags von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans* und Inter* (LSBTI*). Aktuelle Schwerpunkte sind die wissenschaftliche Aufarbeitung der Verfolgung und Repression von LSBTI* in der NS-Zeit sowie die Suche nach Zeitzeug_innen, die in den 1950er und 1960er Jahren unter den Folgen des § 175 in beiden deutschen Staaten gelitten haben. Die Bundesstiftung initiiert Bildungsmaßnahmen und -veranstaltungen zu unterschiedlichen Themen der sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt, die zu mehr Akzeptanz von LSBTI*-Lebensweisen in unserer Gesellschaft beitragen helfen. Diese Veröffentlichung entstand als Dokumentationsband des 1. LSBTI*-Wissenschaftskongressess »Gleich-Geschlechtliche Erfahrungswelten« der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld, welcher vom 28. bis zum 30. November 2013 in Berlin stattfand.
FORSCHUNG IM QUEERFORMAT
Aktuelle Beiträge der LSBTI*-, Queer- und Geschlechterforschung
Menschen, die nicht ins heteronormative Raster der Gesellschaft passen, werden auch heute noch in vielen Lebensbereichen benachteiligt. Forschung und Wissensvermittlung helfen, diesen Diskriminierungen und bestehenden Vorurteilen zu begegnen und Akzeptanz gegenüber Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans* und Inter* (LSBTI*) aufzubauen.
So beschäftigen sich zahlreiche Forschungsarbeiten mit den Lebenswelten von LSBTI* in Vergangenheit und Gegenwart. In bisher einzigartig vielfältiger Zusammenstellung geben Expert_innen in diesem Band einen Einblick in ihre LSBTI*-Forschungsarbeit und diskutieren aktuelle Forschungsperspektiven. Die Beiträge zeigen Forschungslücken auf und erörtern die gesellschaftliche Bedeutung von »Forschung im Queerformat«.
INTERVIEW
mit den Großgruppenmoderatorinnen Karolina Iwa und Tracie Farrell von track2 über die „Moderierten Reflexionen“ an den Nachmittagen des Kongresses
Auf dem 1.LSBTI*-Wissenschaftskongress finden nicht nur wissenschaftliche Vorträge, Podiumsdiskussionen und Posterpräsentationen statt. An den Nachmittagen werden in „Moderierten Reflexionen“ alle Kongressteilnehmer_innen aktiv eingebunden. Im folgenden Interview lesen Sie, wie sich die Partizipation aller Teilnehmer_innen gestaltet:
Frau Farrell und Frau Iwa, beim Kongress „Gleich-Geschlechtliche Erfahrungswelten“ führen Sie als Kommunikationsexpertinnen nach den Symposien zusammenfassende, interaktive Großgruppen durch. Was soll durch diese „moderierten Reflexionen“ erreicht werden?
Tracie Farrell (TF): Im Allgemeinen ist das Ziel einer „moderierten Reflexion“, die Brücke zwischen Erfahrung und Verständnis zu schaffen; Klarstellung, konstruktiver Austausch, neue Perspektiven reinbringen. Um dieses Ziel für den Kongress zu spezifizieren, haben wir genau diese Frage an die Organisierenden des Kongresses gestellt: Was soll durch die „moderierten Reflexionen“ erreicht werden? Für diesen Kongress geht es in unseren Reflexionsmethoden darum, Diskussionen zu fördern, die unterschiedlichen Erfahrungen der Teilnehmer_innen* zu Wort kommen zu lassen, die verschiedenen Themen der Vorträge zu vernetzen und die Forschungslücken zu identifizieren — auf eine partizipative Art und Weise.
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Am Donnerstag und Freitag finden die beiden Großgruppen-Diskussionen nach der „Fishbowl“-Methode statt. „Fishbowl“ - wieso sind diese Gesprächsrunden nach dem Goldfischglas benannt?
TF: Für diese Methode bekommt eine kleinere Gruppe von Teilnehmenden die Aufgabe, eine Diskussion vor der Gruppe durchzuführen. Normalerweise sitzt diese kleine Gruppe (die „Fische“) mitten in einem größeren Kreis von allen anderen Teilnehmer_innen* (das „Goldfischglas“). Alle Teilnehmer_innen* können, wenn Sie etwas zur Diskussion beitragen wollen, nach innen kommen und Teil der diskutierenden Kleingruppe werden. Unser Goldfischglas wird auf dem Kongress ein wenig eckig sein, da wir wegen der Räumlichkeiten im dbb forum mit normalen Stuhlreihen arbeiten. Es war uns jedoch wichtig, dass alle Interessierten in einem Raum Platz haben und teilnehmen können. Das Prinzip bleibt aber das Gleiche.
Was kann mit der „Fishbowl“-Methode erreicht werden?
TF: Diese Methode hat praktische und kognitive Vorteile. Ganz praktisch gesehen ermöglicht die „Fischbowl“-Methode eine intensive, vielfältige Reflexion bestimmter Themen, die in einem beschränkten Zeitfenster stattfinden kann. Wichtig für den Kongress ist, dass diese Methode eine Diskussion mit hoher Qualität entwickeln kann und dass ein erhöhtes Verständnis für das große Ganze bzw. die Themen des Kongresses gefördert werden kann. Dieser Aspekt wird auch am Samstagnachmittag noch einmal besonders vertieft.
Am dritten Tag, dem Samstag, gibt es einen „konzentrierten Dialog“ in Kleingruppen, die dann zu einem Plenum zusammenkommen. Wie funktioniert diese Methode?
TF: Es werden im Zuge des Kongresses mehrere Themen vorkommen, die für einige Personen wichtiger oder interessanter sind als andere. Partizipative Methoden funktionieren am besten, wenn diese „Realität“ direkt angesprochen wird. Daher haben die Teilnehmer_innen* am Samstag die Chance, wirklich tief in ein Thema einzutauchen, mit einer Gruppe von Menschen die gleichermaßen am selben Thema interessiert sind. Am Anfang werden alle Teilnehmer_innen* die Möglichkeit haben, ein für sie interessantes Thema auszuwählen und eine Gruppe von maximal 9 weiteren Personen zu finden. Die Kleingruppen werden dann eine bestimmte Zeit und einen bestimmten Arbeitsraum bekommen, um sich mit ein paar Kernfragen auseinanderzusetzen. Die Ergebnisse werden für alle Teilnehmer_innen* in einem Bericht dokumentiert. Die Berichte werden nach dem Kongress an alle Interessierten per E-mail verschickt. Ein Teil der Kleingruppenarbeit wird ins Plenum zurückgetragen und kurz präsentiert. Mit dieser Methode ist es möglich, das Wissen und die Erfahrungen im Raum für alle Teilnehmer_innen* zugänglich zu machen, auch wenn sie nicht in allen Gruppen beteiligt sein können.
Sie arbeiten mit Gruppen zwischen 100 bis 300 Personen. Wie behalten Sie und auch die Teilnehmer_innen* da die Übersicht?
TF: Das Wichtigste, was wir mitbringen, ist eine sehr gute Organisation der Struktur: Wer geht wann wohin und was wird dort wie gemacht. Wir bieten den Rahmen an. Partizipation sieht manchmal chaotisch aus, aber einen Plan und roten Faden gibt es die ganze Zeit. Die Abläufe werden wir den Teilnehmenden immer im Voraus kommunizieren, so dass sich jede Person dabei wohlfühlen kann. Falls irgendwer eine Frage hat, stehen wir die ganze Zeit zur Verfügung.
Track2 coacht und begleitet auch Organisationen, die sich in einer Phase des Wandels befinden. Können Sie Beispiele für diese Arbeit geben?
TF: Bei vielen Organisationen, geht es um „Innovation“; wie die Organisation mit neuen technologischen Entwicklungen umgehen kann, wie die Mitarbeiter_innen kreativer und effizienter arbeiten können (meist mit wenigen Ressourcen), wie sie den Auftrag der Organisation erweitern oder ändern können (mit Bezug auf politische, ökonomische, soziale und kulturelle Entwicklungen). Es kann auch manchmal sein, dass die Organisation einen neuen Führungsstil einführen will. Dafür haben wir eine Herangehensweise, „Kinetic Creativity“, erstellt, die Organisationen in solchen Prozessen unterstützen kann. In Kinetic untersuchen wir, wie die bestehenden Strukturen und die individuellen Einstellungen der Mitarbeiter_innen die Kreativität und Innovation beeinflussen. Wir arbeiten zusammen mit dem/der Klient_in an der Entwicklung der kreativen Fähigkeiten, die für große Veränderungen benötigt werden. Ein Teil dieser Arbeit ist auch immer, herauszufinden, wie sich die Organisation von alten Mustern loslösen kann, um etwas Neues aufkommen zu lassen.
Tracie Farrell
ist Prozessbegleiterin, Trainerin und Sozialwissenschaftlerin aus den USA, die sich seit 2008 mit den Themen Kreativität, Innovation, Selbstorganisation, Partizipation, Interkulturelle Kommunikation und Konfliktbereitschaft beschäftigt. Sie ist die Co-Gründerin von track2 und wohnt in Berlin.
Karolina Iwa
ist Prozessbegleiterin, Trainerin, Coach und ausgebildete interkulturelle Psychologin sowie Gründerin von track2. Sie arbeitet seit Jahren mit Großgruppen, die sie bei partizipativen Dialogen, strukturierten Veränderungsprozessen und kreativen Teamarbeiten unterstützt. Sie kommt aus Polen (Schlesien), wohnt in Berlin, arbeitet europaweit.
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ÜBER DEN KONGRESS
“Gleich-Geschlechtliche Erfahrungswelten” – unter dieser Überschrift präsentiert der erste Wissenschaftskongress der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld aktuelle Forschung in Bezug auf Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans* und Inter* (LSBTI*). Vorgestellt wird ein breites Spektrum wissenschaftlicher Projekte zu sexueller und geschlechtlicher Vielfalt.
Ziel der dreitägigen Veranstaltung ist es, Denkanstöße zu vermitteln, Forschungsperspektiven zu diskutieren, Wissenschaftler_innen zu vernetzen sowie Forschungslücken aufzudecken. Der interdisziplinäre Wissenschaftskongress “Gleich-Geschlechtliche Erfahrungswelten” wird unter dem Förderkennzeichen 01FP1301 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert. Er bewegt sich in einem Themenfeld zwischen Politik und Recht, Geschichte und Psychologie, sozialen Bewegungen und Kultur, Kunst und Medien. Es geht unter anderem um queere Identitäten, lesbischwule Biografien, Transphobie und Stigmatisierung sowie geschlechtliche Uneindeutigkeit. Ein thematischer Schwerpunkt werden historische Forschungsarbeiten sein — wie z.B. die Verfolgung von gleichgeschlechtlichen Lebensweisen im Nationalsozialismus — aber auch heutige queere Perspektiven in Forschung und Bildung.
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Vom 28. bis 30. November bietet der Kongress zahlreiche Vorträge in acht Symposien — und viel Raum für Debatten. Angesprochen sind neben Wissenschaftler_innen und Student_innen auch interessierte Teilnehmer_innen aus den Communities, aus Aus- und Fortbildung, Wirtschaft, Medien, Politik und Verwaltung.
Neben drei großen Podiumsdiskussionen findet am 29.11. die 4. Hirschfeld Lecture statt. Prof. Jeffrey Weeks von der London South Bank University spricht über “The Changing Meanings of Sexual Justice: Gender, Sexuality and Homosexual Emancipation in Europe”. Sein Vortrag wird simultan übersetzt.
Ort des Kongresses ist das dbb forum. Es liegt in der Friedrichstraße in Berlin-Mitte — übrigens nur rund zwei Kilometer entfernt vom historischen Standort des Instituts für Sexualwissenschaft von Magnus Hirschfeld.
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GRUSSWORTE
Bundesministerin für Bildung und Forschung
Prof. Dr. Johanna Wanka
“Per scientiam ad justitiam” – “Durch Wissenschaft zu Gerechtigkeit” – mit diesem Lebensmotto ihres Namensgebers hat die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld ihre Arbeit überschrieben. In diesem Sinne nimmt sie ihren Auftrag wahr, das Unrecht der nationalsozialistischen Verfolgung Homosexueller in Erinnerung zu halten und durch interdisziplinäre Forschung und Bildung der Diskriminierung homosexueller Menschen in Gegenwart und Zukunft entgegenzuwirken. Die Arbeit der Stiftung vereint die Förderung von Forschungsvorhaben zu geschlechtlicher und sexueller Diversität mit der Initiierung von Bildungsprojekten, die auf die gesellschaftliche Akzeptanz von Homo- und Bisexuellen, Trans- und Intersexuellen zielen. mehr »
Der erste Wissenschaftskongress der Stiftung wendet sich in dem Bestreben nach Erkenntnisgewinn und Aufklärung unter dem Motto “Gleich-Geschlechtliche Erfahrungswelten” sowohl an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler als auch an die interessierte Öffentlichkeit sowie an Multiplikatorinnen und Multiplikatoren aus den Medien, aus Verbänden und Interessengruppen, der politischen Bildung und aus Unternehmen und öffentlichen Organisationen. Ziel des Kongresses ist es, den wissenschaftlichen Austausch zu fördern, Forschungsergebnisse in die Mitte der Gesellschaft zu tragen und über die wissenschaftliche Gemeinschaft hinaus zu diskutieren. Dazu bietet der interdisziplinär angelegte Kongress einen breiten Überblick über verschiedene Felder der deutschen Forschungslandschaft und im Rahmen der “Hirschfeld-Lecture” auch Impulse aus dem Ausland. Es ist ein Anliegen des Kongresses, neue Diskussionen anzuregen, bisher nicht oder unzureichend erforschte Bereiche zu identifizieren, Forschungslücken aufzuzeigen und Anregungen für Forschungsprojekte zu geben.
Ich wünsche allen Teilnehmenden informative Tage mit anregenden Diskussionen und zahlreiche Denkanstöße zur Frage, wie sich mehr gesellschaftliche Akzeptanz und Chancengerechtigkeit für Menschen erreichen lassen, die vorgefertigten Schemata und Rollenbildern nicht entsprechen.
Prof. Dr. Johanna Wanka
Bundesministerin für Bildung und Forschung
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Fachbeiratsvorsitz
Prof. Dr. Michael Schwartz
Sehr geehrte Mitwirkende,
der Erste LSBTI*-Wissenschaftskongress der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld setzt ein wichtiges und wirksames Zeichen für die wachsende Bedeutung der Thematisierung gleich-geschlechtlicher Erfahrungswelten in Wissenschaft, Bildungssektor und Öffentlichkeit.
Alle Facetten gleich-geschlechtlicher Vielfalt (eben darum: LSBTI*) spiegeln sich im Programm wider; es geht sowohl um heutige Selbst-Erfahrungen als auch um die Aufarbeitung historischer Diskriminierungen und Identitätsfindungen, sowie um aktuelle Fragen rechtlicher Emanzipation.
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Wichtig ist die intensive Partizipation aller Teilnehmer_innen. Dadurch sollen Forschungsdesiderate für die künftige Stiftungsarbeit herausgearbeitet und zugleich ein Forum zur Vernetzung aller an LSBTI*-Forschung Interessierten geschaffen werden.
Als Vorsitzender des Fachbeirats der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld wünsche ich dem Ersten Wissenschaftskongress unserer Stiftung großen Erfolg und eine weit in unsere Gesellschaft hinein reichende Wirksamkeit.
Prof. Dr. Michael Schwartz
Fachbeiratsvorsitz
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